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KunstGlobal

Anja Niedringhaus: Erinnerung an die "Bilderkriegerin"

Katarzyna Domagala-Pereira
3. April 2024

Mit ihrer Kamera dokumentierte Anja Niedringhaus das Leben in Krisengebieten. Am 4. April 2014 - genau vor zehn Jahren - wurde die Pulitzer-Preisträgerin in Afghanistan erschossen.

Junge springt in die Luft - einem Drachen hinterher
Anja Niedringhaus hat dieses Bild mit dem afghanischen Jungen im Mai 2013 fotografiertBild: Anja Niedringhaus/AP Photo/picture alliance

Banda Khel, Afghanistan, 4. April 2014. "Ich bin glücklich", schreibt Anja Niedringhaus an ihren besten Freund und Fotografen Muhammed Muheisen. Eines ihrer Bilder ist an diesem Tag auf der Titelseite der "New York Times" abgedruckt. Anja ist gerade unterwegs in der ostafghanischen Provinz Chost. Begleitet wird sie von der kanadischen Reporterin und Freundin Kathy Gannon. Die beiden sind ein eingespieltes und erfahrenes Team. Für die amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press berichten sie über die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan

Anja Niedringhaus (Foto von 2005) sah auch die andere Seite des KriegesBild: Peter Dejong/AP Photo/picture alliance

Die Reise ist gut vorbereitet und gilt als sicher. Sie fahren in einem Konvoi mit Polizei, Militär und Wahlhelfern. Anja möchte ein Foto von den Dorfbewohnern machen, die sich für die Wahl registrieren lassen. Der Konvoi hat gerade an einem gut bewachten Polizeigelände angehalten. Anja und Kathy warten auf dem Rücksitz des Wagens, reden und scherzen. Plötzlich eröffnet ein junger Polizist das Feuer. Er schießt mit einer Kalaschnikow auf den Wagen und ruft dabei "Allahu Akbar" ("Gott ist groß"). Anja Niedringhaus stirbt auf der Stelle, die schwer verletzte Kathy wird ins Krankenhaus gebracht. 

"Sie hat Afghanistan geliebt"  

Anjas Familie kann nicht glauben, dass die Fotoreporterin tot ist. "Tief in meinem Inneren habe ich gedacht, dass das nicht wahr ist", erinnert sich Elke Niedringhaus-Haasper, Anjas ältere Schwester, im Gespräch mit der DW. "Meine Schwester liebte Afghanistan und die Menschen dort, war begeistert von ihrer Gastfreundschaft", fügt sie hinzu. Von gefährlichen Situationen habe sie der Familie nie erzählt. "Sie berichtete von schönen Dingen, die man zum Teil auch auf ihren Fotos sieht", sagt die Schwester. Ein Foto aus Kabul zeigt einen lächelnden Jungen vor einer dunklen Bergkette. Er springt auf, um einen selbst gebastelten Drachen steigen zu lassen. Drachensteigen war unter den Taliban verboten. Ein anderes Foto zeigt drei Frauen in Burkas mit einem Baby auf dem Arm. Ihre bunten Gewänder flattern im Wind. Auf einem anderen - das Ende des Ramadan und Jungen, die auf einem Karussell fahren, einer mit einer Gewehrattrappe. 

Drei Frauen in Kandahar, die betteln müssen, um sich und ihr Baby zu ernährenBild: Anja Niedringhaus/AP Photo/picture alliance

Anja Niedringhaus: mutig und entschlossen

Anja Niedringhaus glaubte an die Macht der Bilder, wollte sie der Welt zeigen und Kriege beenden. "Doch schon im ehemaligen Jugoslawienmusste sie erkennen, dass Fotos nicht ausreichen, um einen brutalen Krieg zu beenden", sagt Christine Longère, ehemalige Redakteurin der Tageszeitung Neue Westfälische und Mitbegründerin des Anja Niedringhaus Forums im westfälischen Höxter, Anjas Heimatstadt. Dort, in der Redaktion der Lokalzeitung, lernte Longère die 17-jährige Anja kennen, die als freie Mitarbeiterin begann.  

Anjas erster Auftrag war es, über die Verabschiedung eines verdienten Rathausmitarbeiters im 30 Kilometer entfernten Bad Driburg zu berichten. "Sie war 17 und hatte noch keinen Führerschein, aber auf die Frage der Sekretärin antwortete sie wahrheitsgemäß, dass sie Auto fahren könne. Als Segelfliegerin war sie oft mit dem Auto über das Flugplatzgelände gefahren. Sie holte sich die Schlüssel für den Dienstwagen und fuhr los", erzählt Longère, die noch heute das erste Foto von Anja für die Neue Westfälische" aufbewahrt. Es erschien auf der Titelseite. "Schon damals war sie unglaublich mutig und zielstrebig. Sie wusste, was sie wollte", sagt Longère.  

Fotografien von Anja Niedringhaus in Höxter - in der Mitte die zerstörte Kamera, die sie bei dem Attentat bei sich trugBild: FAN/Silja Polzin

Der erste Kriegseinsatz

Die junge Fotoreporterin war noch sehr unerfahren, als sie 1991 für die European Pressphoto Agency (EPA) in den Krieg in das damalige Jugoslawien reiste. "Ein Krieg mitten in Europa? Ich fragte mich: Was mache ich hier eigentlich? Und bin sofort zu meinem Chefredakteur: 'Ich will da hin.' Der dachte, ich spinne. 'Welche Erfahrungen hast du überhaupt?' Ich hatte keine, ich war erst 26 Jahre alt. Aber ich schrieb ihm sechs Wochen lang jeden Tag einen Brief auf der Schreibmaschine, bis er endlich sagte: 'Na, dann fahr.' Er und meine Kollegen waren sicher, die Niedringhaus ruft nach zwei Tagen an und will wieder zurück. Ich blieb fünf Wochen am Stück. Insgesamt habe ich dann fünf Jahre in Sarajewo verbracht", erzählt Anja Niedringhaus in einem Interview für das Buch "Bilderkrieger".  

"Sie hat mir viel über den Krieg erzählt, über Sarajevo und die Momente, in denen ihre Fotos entstanden sind", erinnert sich Anjas Mutter Heide Ute Niedringhaus. Wie damals in Sarajevo, in einem Hinterhof. Es schneite, Kinder fuhren Schlitten und sie dachte, wie schön es ist, dass diese Kinder den Krieg für einen Moment vergessen können. Plötzlich flog eine Granate und tötete ein Mädchen. "Ihr Name war Emine. Sie hatte lange dunkle Haare. Anja sagte, dass sie wie Schneewittchen aussah. Die Eltern des Mädchens und der Bruder des Vaters kamen aus dem Haus gerannt. Sie hielten ihre Hände über den Kopf von Emine. Das Foto ging um die Welt. Ein trauriges und bewegendes Bild", sagt Heide Ute Niedringhaus.

G.I.-Puppe als Glücksbringer: Anja Niedringhaus dokumentierte auch die emotionalen Seiten des Krieges Bild: Anja Niedringhaus/AP Photo/picture alliance

Fotos, die das Geschehen mit der Welt teilen 

Für Anja Niedringhaus war es wichtig, als Augenzeugin das Geschehen zu dokumentieren und mit der Welt zu teilen. Auf ihren Bildern sieht man Frauen, die ihre Kinder aus brennenden Dörfern tragen, Männer, die am Straßenrand Totenwache halten, oder eine Frau, die an einer Wasserausgabestelle in Sarajevo in Tränen ausbricht, als sie erfährt, dass es kein Trinkwasser mehr gibt. Auch Soldaten erscheinen als Opfer des Krieges. Es sind junge Männer, die aus den amerikanischen Provinzen in den Irak geschickt wurden. Einer von ihnen trägt während der blutigen Schlacht um Falludscha eine G.I.-Joe-Figur als Glücksbringer. Für dieses und andere Bilder aus dem Irak erhält Anja Niedringhaus 2005 den Pulitzer-Preis. Sie ist die erste deutsche Fotojournalistin, die diese Auszeichnung erhält. Anja Niedringhaus berichtet unter anderem aus dem Gazastreifen, Israel, Kuwait, Libyen, Pakistan und Afghanistan. Immer wieder entkommt sie dem Tod. 2010 läuft sie in Afghanistan mit Soldaten durch eine Gasse, der Vordermann tritt mit dem Fuß nach einem Huhn. Anja hält das im Bild fest, doch Sekunden später schlägt eine Granate ein - sie wird durch Splitter schwer verletzt.  

Menschen fliehen aus Basra im Jahr 2003Bild: Anja Niedringhaus/AP Photo/picture alliance

In Falludscha 2004 werden 60 Prozent der Einheit, die sie mit der Kamera begleitet, getötet. "Wenn ich vorher gewusst hätte, was ich in den zwei Wochen sehen würde, hätte ich es nicht gemacht, nein", sagt sie im Interview mit "Bilderkrieger". Und doch kehrt sie immer wieder in Kriegs- und Krisengebiete zurück. "Wir haben einen journalistischen Auftrag, wir haben eine gesellschaftliche Verpflichtung", wiederholt sie. 

Als Journalistin mit dem Leben bezahlt 

Anja Niedringhaus ist eine von zahlreichen Journalistinnen und Journalisten, die jedes Jahr bei der Ausübung ihres Berufs ums Leben kommen. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (ROG) wurden im Jahr 2023 weltweit 50 Journalistinnen und Journalisten getötet. Andere Organisationen nennen - aufgrund unterschiedlicher Herangehensweisen bei der Überprüfung der einzelnen Fälle - noch höhere Zahlen. Laut dem Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) wurden im vergangenen Jahr 99 Medienschaffende getötet, mehr als drei Viertel davon im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas.

Rund 80 Prozent der Verbrechen blieben für die Täterinnen und Täter ohne Konsequenzen. "Wo kein Kläger, da kein Richter", sagt Christopher Resch von ROG. "Oft sind es nur internationale Organisationen wie Reporter ohne Grenzen, die den gewaltsamen Tod von Medienschaffenden anprangern. In den betroffenen Ländern selbst werden diese Fälle aus verschiedenen Gründen oft nicht untersucht", erklärt er.  

Zehn Jahre nach dem Tod von Anja Niedringhaus

Der Mörder von Anja Niedringhaus wurde gefasst und vor Gericht gestellt. Er gab an, aus Rache für den Tod von Familienangehörigen bei einem Bombenangriff der NATO-Truppen gehandelt zu haben. Ein Gericht in Kabul verurteilte ihn zum Tode. Anja war eine Gegnerin der Todesstrafe, ihre Familie wehrte sich gegen das harte Urteil. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans reduzierte das Urteil auf 20 Jahre Haft. Zwei Jahre später bemühte sich die einflussreiche Familie des Täters um seine Freilassung. "Jetzt ist er wohl auf freiem Fuß", sagt Heide Ute Niedringhaus nachdenklich.  

Afghanische Mädchen sehnen sich nach Schule

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Am 4. April, dem zehnten Todestag ihrer Tochter, lässt sie weiße Blumen auf ihr Grab legen und Lichter in Herzform neben das Foto stellen. Das Forum Anja Niedringhaus in Höxter zeigt in der Ausstellung The Power of Facts" Fotos von Anjas mutigen Einsätzen in Kriegsgebieten. Am gleichen Tag eröffnen Freunde von Anja im Bronx Documentary Center in New York eine Ausstellung über ihr Werk. Elke Niedringhaus-Haasper und Christine Longère werden ebenfalls anwesend sein, um die Erinnerung an Anja wach zu halten".  Am selben Abend und Ort verleiht die International Women's Media Foundation (IWMF) den Anja Niedringhaus Courage in Photojournalism Award, um die Arbeit mutiger Fotojournalistinnen weltweit zu würdigen.

So mutig wie Anja, die mit ihrer Kamera und ihrem Herzen" über Menschen in Krisengebieten berichtet. Hätte der afghanische Polizist am 4. April 2014 nicht auf sie geschossen, würde Anja Niedringhaus heute vielleicht wieder das Schicksal der Menschen im Gaza-Krieg dokumentieren.

Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.