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GesellschaftDeutschland

Sinti und Roma immer noch benachteiligt

24. Februar 2021

Gleiche Bildungschancen für alle in Deutschland? Die RomnoKher-Studie zeigt Fortschritte und hohe Bildungsbereitschaft in der größten Minderheit Europas, aber - 76 Jahre nach dem Völkermord - auch Diskriminierung.

Viele Kinder im Schulalter schauen lächelnd nach vorne
Mädchen und Jungen der Neckarschule in Mannheim freuten sich über den Besuch des Bundespräsidenten (Archivbild)Bild: Uwe Anspach/dpa/picture alliance

"Du bist nichts, du kannst nichts, du bist das Allerletzte", seit Jahrhunderten sei das der Minderheit eingeredet worden, mal offen, mal subtil, sagt Sebastijan Kurtisi der DW. Als einer der Interviewer der RomnoKher-Studie hat er in Deutschland lebende Sinti und Roma befragt, einheimische und zugewanderte. RomnoKher ist ein Verband der Sinti und Roma zur Förderung von Kultur und Bildung. Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) fördert die Studie.

614 Interviews wurden wissenschaftlich ausgewertet. Wie alle Interviewer ist Kurtisi selbst Mitglied der größten europäischen Minderheit von geschätzt 6,3 Millionen Menschen in der Europäischen Union mit der gemeinsamen Sprache Romanes. Die EU-Mitgliedsstaaten sind aufgerufen, ihre Teilhabe auch in der Bildung explizit zu fördern. Die große Mehrheit aller Befragten hält das für notwendig, über 80 Prozent halten Bildung für sehr wichtig.

"Warum denken sie, dass ich so bin?"

Sebastijan Kurtisi ist Rom, geboren in Mazedonien, aufgewachsen in Serbien, Diplom an einer technischen Schule, mit 17 Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland geflohen, mittlerweile mit deutschem Pass. In Aachen hat er an der Entwicklung von Entschwefelungsanlagen gearbeitet, jetzt unterstützt er als Sozialcoach Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten. Irgendwann merke man, sagt er, wie viele Vorurteile es über die Minderheit gebe: "Ein Volk, das nur aus Dieben, Musikern, Wahrsagern und Bettlern besteht? Warum denken sie, dass ich so bin?"

Sozialcoach Sebastijan Kurtisi war einer der Interviewer für die RomnoKher-StudieBild: Christian Kaufmann

Die Studienautoren verweisen auf Rassismus, Antiziganismus und Diskriminierungen: 40 Prozent der Befragten berichteten von Diskriminierungen ihrer Kinder, auch im Unterricht - von Lehrkräften und Mitschülerinnen. Zwei Drittel aller Befragten fühlen sich selbst wegen ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit diskriminiert, auch im Bildungssystem. Dort aber, wo Lehrer hohe Erwartungen an die Kinder aus der Minderheit hatten, erreichten sie im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse.

Das kann Interviewerin Manja Schuecker-Weiss, selbst deutsche Sinteza, bestätigen. Sie berichtet der DW von der Mutter eines Schülers, die mit ihrem deutschen Namen am Telefon ganz normal behandelt worden sei. Als sie und ihr Mann in der Schule erschienen, "dunkle Haare, dunkle Haut, Rock", seien komische Fragen gestellt worden. Plötzlich sollte der Junge in den Förderunterricht, obwohl er eine gute drei hatte.

Sozialarbeiterin Manja Schuecker-Weiss hat Sinti und Roma für die RomnoKher-Studie befragtBild: Lee Fuhler

"Das erlebe ich oft", sagt Sozialarbeiterin Schuecker-Weiss. Da gebe es trotz guter Noten schlechtere Schullaufbahn-Empfehlungen, das hätten viele berichtet. Ihre eigene Tochter, die ein Gymnasium besucht, habe gesagt: "Ich bin so froh, dass ich blond bin und blaue Augen habe." Sie müsse sich keinem erklären. Als kürzlich in Singen die Polizei ein 11-jähriges Sinti-Kind in Handschellen mitnahm, ohne die Eltern zu informieren, habe das viele in der Community aufgewühlt.

"Erschreckende Differenz" zur Gesamtbevölkerung

Insgesamt zeigt die RomnoKher-Studie viele Bildungsfortschritte im Vergleich zu früheren Untersuchungen und im Vergleich der Generationen, sagt Karin Cudak der DW, Erziehungswissenschaftlerin an der Europa-Universität Flensburg und eine der Studienautorinnen.

Die Grundschule besuchen mittlerweile alle Kinder aus der Minderheit der Sinti und Roma in DeutschlandBild: Robert Michael/Zentralbild /dpa/picture alliance

Alle Kinder aus der Minderheit besuchten mittlerweile die Grundschule, aber es zeige sich auch, "dass ein großer Teil der Befragten nach wie vor das Bildungssystem mit leeren Händen verlässt" - jeder Dritte hat keinen Schulabschluss, in der Folge auch keinen Berufsabschluss. Deshalb finden viele nur schlecht bezahlte Jobs. Bei den jüngsten Befragten verpassen nur noch halb so viele den Abschluss, aber immer noch deutlich mehr als in der Gesamtbevölkerung: Nur fünf Prozent aller Erwachsenen in Deutschland haben keinen Schulabschluss.

Bei allen Fortschritten gerade bei jüngeren Befragten zeige sich eine "erschreckende Differenz zum bundesweiten Durchschnitt der Bevölkerung". So besuchen weniger Kinder aus der Minderheit die Kita, deutlich weniger erreichten einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss.

Und selbst wenn bei den Befragten unter 30 Jahren 15 Prozent das Abitur erreichen (Gesamtbevölkerung: 40 Prozent), schließen nur vier Prozent das Studium ab. Ein Grund könnte sein, dass die Familien die Kinder oft nicht genügend unterstützen können und keinen Zugang zu Hilfsangeboten finden, wie die Befragung zeigt.

Langfristige Folgen der nationalsozialistischen Verfolgung

RomnoKher-Mitgründer Daniel Strauß hatte 2011 schon eine erste Bildungsstudie der Minderheit herausgegeben. Sein Vater, einer der wenigen Auschwitz-Überlebenden, wurde durch das Schulverbot für die Minderheit zum Analphabeten gemacht, sagt Strauß der DW: "Er hat dafür gesorgt, dass seine Kinder in die Schule gehen, obwohl er selbst ausgeschult wurde."

50 Prozent der Überlebenden aber schickten ihre Kinder nicht zur Schule, weil es "die gleichen rassistischen Tendenzen gegeben hat, die gleichen Materialien, die gleiche Schulleitung, die gleichen Lehrer, die die Eltern ausgeschult haben." Diese Familien hätten noch eine Generation lang Bildungsmöglichkeiten verpasst.

Mehr Empowerment: Daniel Strauß ist Mitgründer der Organisation RomnoKher und Herausgeber der StudieBild: Andrea Grunau/DW

Wenn der deutsche Staat gezielte Förderung - wie von der EU gefordert - abgelehnt habe mit dem Argument, das deutsche Schulsystem sei offen für jeden, sage er: "Nicht jeder hat den Völkermord erlebt." Für gleiche Chancen brauche es mehrere Generationen und explizite Unterstützung. Organisationen der Minderheit haben deshalb Mediatoren-Projekte gegründet.

"Das Wort wurde unseren Menschen in die Haut tätowiert"

Sebastijan Kurtisi ärgert die deutsche Debatte über die Verwendung des Wortes "Zigeuner": "Es geht mir nicht darum, wie ein Schnitzel oder wie eine Soße heißen soll. Das ist mir auf gut Deutsch gesagt Wurscht. Es geht darum, wie sehr uns dieses Wort stigmatisiert. Welche Urängste und welche Re-Traumata es bei uns weckt." Er erklärt: "Wenn ich jemandem sage: Hör bitte auf, mir auf den Fuß zu treten, das tut mir weh. Dann kann er nicht sagen: 'Warum denn? Das haben wir doch schon immer gemacht.' Das Wort wurde unseren Menschen in die Haut tätowiert. Und dann wurden sie vergast."

Sichtbar werden wie hier am "Every Day is Roma Day" - Sebastijan Kurtisi sprach am 22.11.2017 in BerlinBild: Marko Priske/Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Ihn und andere besorge aber "nicht nur das Z-Wort: Die steigenden Zahlen in der Neonazi-Szene, deren Sympathisanten, die Hanau-Morde oder Polizisten, die sich in den Kreisen bewegen. Das ist retraumatisierend und erweckt diese Urängste, die wir seit Jahrhunderten mit uns tragen, die in der Zeit von 1939 bis 1945 den Höhepunkt erreicht haben."

Wo bleibt das Positive über die Kultur der Sinti und Roma?

Studienautor Frank Reuter zeichnet nach, wie die Minderheit als andersartig beschrieben wurde, lange vor der nationalsozialistischen Verfolgung in ganz Europa, wie sich der Antiziganismus danach fortsetzte in vielen Institutionen, zumal der rassistische Völkermord bis 1982 nicht anerkannt wurde.

Er zitiert einen Sohn von Überlebenden: "Die Kinder haben mich bösartig als 'dreckiger Zigeuner' beschimpft". Einige der Lehrer "waren ehemalige Nazis". Reuter zeigt, dass einige Schulbücher bis heute Stereotype über die Minderheit nicht widerlegen und positive Erzählungen praktisch nicht vorkommen.

Gesellschaft und Bildungssystem wären gut beraten, sagt auch Erziehungswissenschaftlerin Karin Cudak, sowohl die Verfolgungsgeschichte als auch Erfolgsgeschichten wie die vielfältigen Sinti-und-Roma-Kulturen und die Sprache Romanes in Lehrpläne und Unterrichtsmaterial aufzunehmen. Das gebe es bisher erst vereinzelt.

Studienautorin Karin Cudak ist Erziehungswissenschaftlerin an der Europa-Universität FlensburgBild: privat

Empowerment für die Minderheit

In Baden-Württemberg wurden diese Themen durch den Staatsvertrag mit der Minderheit schon in den Lehrplänen verankert, sagt Daniel Strauß. Trotzdem hätte sich fast niemand für die angebotenen Fortbildungen angemeldet. Er fordert für Deutschland einen Bildungsfonds, mehr Informationen über Identität, Kultur und Antiziganismus und mehr Empowerment: "auf Augenhöhe mit der Minderheit etwas entwickeln". Wo es Romno-Power-Clubs für Jugendliche gebe, stiegen auch die Perspektiven für die Ausbildung.

Genau wie bei der sorbischen oder dänischen Minderheit müsse die eigene kulturelle Identität gelebt werden, schon im Kindergarten. Die ganze Vielfalt der Minderheit solle gesehen werden: "Ein Bayer ist nicht nur Bayer, sondern Frau, Mann, katholisch, evangelisch, muslimisch, jüdisch, sehr groß, klein, dick oder dünn. Bei der Minderheit hätten viele das Gefühl: "Kennt man einen, kennt man alle. Das ist nicht so!"

Roma-Band kämpft für Frauenrechte

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